Offener Brief an die FunktionärInnen der GdG

Liebe FunktionärInnen!

Ich werde aus den unten angeführten Gründen nicht mehr kandidieren.

Es ist mir unangenehm, eure berufliche (politische) Tätigkeit zu kritisieren, weil ich euch als Menschen (nicht eure politische Arbeit) schätze und liebenswert finde.

Ich kann mich nicht mit eurer politischen Tätigkeit identifizieren und weiter die Rolle des entmündigten Personalvertreters spielen. Schon deshalb nicht, da mir nicht nur alle Befugnisse zu Entscheidungen und Abstimmungen in den verschieden Entscheidungsgremien entzogen sind, sondern auch die bloße Anwesenheit als Zuhörer ist mir verboten. Diese streng nach oben ausgerichtete Hierarchie der FunktionärInnenklasse, deren Diktat ich sowohl als Mandatar wie auch als Arbeitnehmer unterworfen bin, widerspricht dem Zweck der Gewerkschaft, da sie in dieser Konstruktion nur dem Wohl der FunktionärInnenklasse dient.

Um die politische Ausrichtung für die Gewerkschaften zu bestimmen, genügt es nicht, nur die oberflächlichen Gegensätze zu sehen, wie sie zum Beispiel zwischen Wirtschaftskammer und ArbeitnehmerInnen sich anbieten. Denn auch der Staat ist nichts anderes als eine Körperschaft, wie eben die Wirtschaftskammer. Natürlich ist es nicht auf einen Blick zu erkennen, welche Interessen der Staat vertritt. In seiner staatstragenden Autorität verschleiert er geschickt seine politischen Zwecke, indem er sich zu allen Klassen neutral darstellt. Aber jeder politisch gebildete Mensch weiß genau, dass das Kapital den Staat dirigiert und dass er mit seinem Parlamentarismus die Interessen des Kapitals in Gesetze umwandelt.

Wie will eineR, der/die sich an den Staat gebunden hat, die Gesetze bekämpfen, die der Staat zur Aufrechterhaltung der Interessen der ArbeitgeberInnen geschaffen hat?
Nämlich in so einem Verhältnis stehen die heutigen Gewerkschaften zum Staat. Die FunktionärInnenklasse hat die Gewerkschaften in diese Bindung hinein manövriert und hat sie an die bürgerlichen Gesetze gebunden, die der Staat eigens für die Interessen der EigentümerInnen geschaffen hat.

Das BürgerInnentum fördert mit Anreizen von Privilegien die Bindung der StellvertreterInnen an den Staat. Als Gegenleistung für die Privilegien konservieren sie die Klassengegensätze. Sie bewahren somit die Ordnung, in der das Kapital über den Menschen herrscht. Übrigens, wenn eine Gewerkschaft die bürgerlichen Produktionsverhältnisse bewahrt, dann ist es egal, ob sie innerhalb oder außerhalb einer Sozialpartnerschaft steht.

Kommen wir zu der wichtigsten Funktion, nämlich der Überwachung der Ideologie, die die StellvertreterInnen in den heutigen Gewerkschaften ausüben. Mit der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ideologie beeinflussen sie das Meinungsbild. Ihre Tätigkeit besteht darin, das Bewusstsein der ArbeitnehmerInnen als gleichgültiges und unbewusstes Wesen zu konservieren; damit sie nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse durchschauen; damit sie nicht ihreN KlassengegnerIn erkennen; damit sie nicht sehen, was mit ihnen als Arbeitskraft im Prozess der Arbeitsteilung geschieht. Praktisch: Die Menschen dürfen nicht erfahren was mit ihnen geschieht – dies ist die simple Methode, mit der sie in den Betrieben die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. [1] Aber um dieses Klima der Ruhe im Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital auf "ewige Zeiten" zu bewahren, muss sie konsequent jede intellektuelle Entwicklung des Klassenbewusstseins unterdrücken. Für die Konservierung des reaktionären Bewusstseins schaffen sie kompliziert Regeln, verschleiern die gesellschaftlichen Vorgänge und sorgen dafür, dass die ArbeitnehmerInnen nur gefilterte Informationen erhalten, die den Interessen der ArbeitgeberInnen entsprechen. Sie drücken also das Bewusstsein der ArbeitnehmerInnen, indem sie alle ihre politischen Tätigkeiten und Erfahrungen vor ihnen verstecken; verhandeln nur hinter ihren Rücken und schließen sie von allen Entscheidungen aus.

Sie stellen sich hinter die Ideologien und den Vorurteile, mit denen das Kapital seine Herrschaft rechtfertigt. Andererseits bilden diese Vorurteile den Nährboden, auf dem Rassismus und Fremdenhass gedeiht. Sie sind der Illusion verfallen, dass Rassismus, Fremdenhass und Religiösenwahn, die das BürgerInnentum an die Stelle des Klassenkampfs setzt, durch moralische Sprüche entschärft werden können.

Die FunktionärInnenklasse ist ein fester Bestandteil des Kapitalismus. Sie ist ähnlich wie AnwältInnen, NotarInnen und PolitikerInnen auf die Stellvertretung von Körperschaften, Personen und Rechten spezialisiert. Das Problem für die ArbeitnehmerInnen liegt darin, dass die StellvertreterInnen nach dem bürgerlichen Prinzip der Teilung der Arbeit funktionieren. Der/die ArbeitnehmerIn ist politisch deshalb entmündigt, weil die Teilung der Arbeit ihr die Selbstbestimmung entzieht und diese einer eigens dafür herausgebildeten Berufsgruppe zuteilt. [2]

Aus dem Prozess der Teilung der Arbeit ergibt sich die Entmündigung. Die ArbeitnehmerInnen müssen nach dem bürgerlichen Recht ihre Mündigkeit an einer Stellvertretung abtreten. Die einzige Freiheit, die das BürgerInnentum den ArbeitnehmerInnen zugesteht: Sie dürfen sich alle vier bis fünf Jahre ihre Stellvertretung bzw. ihre Vormundschaft selbst auswählen.
Der ohnmächtige Zustand der ArbeiterInnenklasse wird durch die Arbeitsteilung herbeigeführt, weil sie ihre politischen Anliegen, Wünsche und Rechte an "SpezialistInnen" zur Verwaltung überträgt. Indem die Teilung der Arbeit den ArbeitnehmerInnen die Befugnisse und Rechte entzieht, entzieht sie auch ihnen die politische Macht. Die Befugnisse und Rechte, die der ArbeitnehmerInnenklasse aberkannt und der Bürokratie zur "Obhut" zugesprochen sind, geben dieser zugleich politische Macht.

Die Teilung der Arbeit mit ihrer Spezialisierung schafft erst die politisch entmündigte Klasse, die keine politischen Befugnisse und Rechte weder in der Gesellschaft, in den Betrieben noch in der Gewerkschaft hat. Auf der anderen Seite schafft sie die "hochgradigen SpezialistInnen", die die politischen Befugnisse und Rechte "verwalten", also die herrschende Klasse. Dieser Zustand hebt die Gleichberechtigung in den Gewerkschaften auf.

Die Vormundschaft des FunktionärInnenwesens über die ArbeiterInnen bleibt so lange bestehen, wie die Teilung der Arbeit besteht. Die Teilung der Arbeit steht nicht nur im Widerspruch zur Gleichberechtigung – sie blockiert die Demokratie, den Fortschritt zur Selbstbestimmung; sie bildet ständig eine herrschende und eine beherrschte Klasse, und ermöglicht nur dem Teil die demokratischen Freiheiten, der den anderen Teil der Gesellschaft diese Rechte und Freiheiten vorenthält. Die Teilung der Arbeit, die die Hierarchie von unmenschlichster Unterwerfungen der verschiedenen Rangordnungen der Macht und Unterdrückung schafft, von Befugten und Unbefugten, von FührerInnen und UntertanInnen, bis hin zur bürgerlichen Krönung der faschistoiden Macht, wird durch die Gleichberechtigung für alle abgeschafft.

Erst mit der erkämpften Gleichberechtigung wird die Demokratisierung zur Wirklichkeit; sie hebt die Vormundschaft der FunktionärInnenklasse und somit die Ohnmacht gegenüber dem Kapital auf. Mit der Einführung der Gleichberechtigung wird das Tätigkeitsfeld der ArbeiterInnen erweitert und zwar auf Kosten der verknöcherten Teilung der Arbeit, die in diesem Bereich ihre Herrschaft über den Menschen verliert. Damit wäre auch das berufliche Ende der "hochkarätigen SpezialistInnen" (FunktionärInnenklasse) erreicht, die stets die Verwirklichung der menschlichen Gesellschaft sabotieren und das Leben der ArbeitnehmerInnen für den Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft in einem Zustand der Entmündigung, der Ohnmacht und Versklavung halten. [3]

Die Tätigkeit der ArbeitnehmerInnen und die der StellvertreterInnen werden zu einer Tätigkeit zusammengeführt. Die ArbeitnehmerInnen können erst von da an den Umgang mit ihrer Selbstbestimmung erlernen. Sie lernen in gemeinsamer Zusammenarbeit selbst über ihre Tätigkeit und Bedürfnisse, über die Regeln ihres Arbeitslebens abzustimmen und damit auch umzugehen.

Würdet ihr euch in diesem Sinn einsetzen, dass die ArbeitnehmerInnen ihre Mündigkeit selbst erkämpfen; dass die Befugnisse und Rechte ein unveräußerliches Recht der ArbeitnehmerInnen sind, das ihnen von keinen "hochgradigen SpezialistInnen" zur Verwaltung genommen werden kann, damit endlich Gleichberechtigung und Demokratie für alle in den Gewerkschaften zur Wirklichkeit wird, dann könnte ich mich mit eurer Arbeit identifizieren. Und zur Einladung meiner Wiederkandidatur ist zu sagen, dass eine weitere Kandidatur nicht in Frage kommt, 1.) weil sie anderen den politischen Bildungsweg versperrt, 2.) weil die Wiederwahl von gleichen Personen zwangsläufig demokratische Interessenkonflikte herbeiführt, 3.) weil sie zu einer einseitigen Tätigkeit, wie sie schon in der angelegt ist, führt, die der allseitigen Entwicklung im Wege steht.

Gruß
Gilbert Karasek, Personalvertreter WSTW Holding AG - WIEN ENERGIE – WIENSTROM GmbH

 

Anmerkungen:

  1. "Übrigens ist es ganz einerlei, was das Bewusstsein alleine anfängt, wir erhalten aus diesem ganzen Dreck nur das eine Resultat, dass diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewusstsein, in Widerspruch untereinander geraten können und müssen, weil mit der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, dass die geistige und materielle Tätigkeit - dass der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, dass sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, dass die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird." [Marx/Engels/Werke, Band 3, Deutsche Ideologie.- I. Feuerbach, Seite 32.]
  2. "Er bedenkt nicht, dass innerhalb der Teilung der Arbeit die persönlichen Verhältnisse notwendig und unvermeidlich sich zu Klassenverhältnissen fortbilden und fixieren … Das Individuum als solches, für sich selbst betrachtet. Ist ferner unter die Teilung der Arbeit subsumiert, durch sie vereinseitigt, verkrüppelt, bestimmt." [Marx/Engels/Werke, Band 3, Deutsche Ideologie.- Das Leipziger Konzil III. Sankt Max, Seite 422.]
  3. "Dass die bisherigen Revolutionen innerhalb der Teilung der Arbeit zu neuen politischen Einrichtungen führen mussten, geht aus dem oben gegen Feuerbach Gesagten hervor; dass die kommunistische Revolution, die die Teilung der Arbeit aufhebt, die politischen Einrichtungen schließlich beseitigt, geht ebenfalls daraus hervor; und dass die kommunistische Revolution sich nicht nach den »gesellschaftlichen Einrichtungen erfinderischer sozialer Talente« richten wird, sondern nach den Produktivkräften, geht endlich auch daraus hervor." [Marx/Engels/Werke, Band 3, Deutsche Ideologie.- Das Leipziger Konzil III. Sankt Max, Seite 364.].
Wir sind ÖGB is powered by Joomla!®