Interview mit einem Betriebsrat von Siemens

Wie beurteilst du die internationale Situation des Kapitalismus?

Derzeit sicherlich katastrophal, vor allem auch weil durch das Zusammenbrechen der Börsenblasen auch die Pensionsvorsorge (dritte Säule) von vielen Menschen gefährdet ist. Auch bei den betrieblichen Pensionskassen drohen Pensionskürzungen. Was man in letzter Zeit auf alle Fälle gesehen hat, ist, dass der Grundsatz "Privat kann besser Wirtschaften als der Staat" auf jeden Fall grundfalsch ist. Witzigerweise werden ja gerade jetzt die zusammengekrachten Unternehmen in den USA wieder verstaatlicht.

Wie ist vor diesem Hintergrund die Situation in deinem Betrieb und die Stimmung unter der Belegschaft?

Prinzipiell droht bei uns derzeit die Umsetzung des Löscher-Modells (Anm. Siemens-Vorstandschef), was nichts anderes als eine Umstrukturierung und damit verbunden die mögliche Zerschlagung von Forschung und Entwicklung in Österreich bedeutet. Außerdem soll der Spielraum, den die lokalen Vorstände haben immer weiter eingeschränkt werden. Mit der Umstrukturierung geht auch ein geplanter massiver Personalabbau einher.

ie Stimmung der Belegschaft ist dadurch natürlich auch dementsprechend: Es herrscht massive Verunsicherung. Es existiert derzeit ein Sozialplan, der auf freiwilliger Basis basiert. Diesen haben bereits 450 KollegInnen angenommen und sind dadurch aus der Firma ausgeschieden.

Welche Auseinandersetzungen stehen in deinem Betrieb bevor?

Wie gesagt steht ein weiterer Personalabbau bevor, über den zurzeit die Auseinandersetzungen aber noch auf dem Verhandlungsweg laufen. In Zukunft kann es in diese Frage durchaus zu größeren Auseinandersetzungen kommen, derzeit gibt es dabei allerdings nichts Konkretes.

Wie würdest du den Warnstreik im November 2006 mit Betriebsversammlung im Austria-Center aus heutiger Sicht einschätzen?

Man muss auf alle Fälle positiv bewerten, dass damals wegen 200 betroffenen KollegInnen 2.000 Menschen den Weg ins Austria Center gefunden haben. Durch diesen Druck haben wir einen Kompromiss erreicht, aber sicher keinen Durchbruch erzielt. Aber immerhin blieb die iSEC eine 100%ige Siemenstochter und wurde nicht an einen Investor verkauft, der sich nur die Rosinen herauspickt und dann die Bude zusperrt. Allerdings stehen wir heute wieder vor der Situation, dass über die Zukunft der PSE intensiv diskutiert wird. Ob das eine Auflösung oder eine "Zerfledderung" bedeutet ist aus heutiger Sicht noch offen. Durch die Größe der PSE war es in der Vergangenheit leichter möglich, Kapazitästschwankungen intern auszugleichen. Diese Möglichkeit geht bei einer Zerteilung verloren.

Die nächste Frage geht weg vom Betrieb und auf die politische Ebene: Wie beurteilst du das Scheitern der Großen Koalition (GroKo) und die vor kurzem stattgefundenen Neuwahlen?

Also der Außeneindruck, warum die GroKo scheiterte ist, dass die SPÖ und ÖVP am Schluss ein völlig zerstrittener Haufen waren. Weiters ist bei der Koalition aufgefallen, dass sich die SPÖ unter Gusenbauer bei den Verhandlungen völlig über den Tisch ziehen hat lassen und dabei alle Wahlversprechen schon zu Beginn gebrochen hat. Das einzige Versprechen, das auch eingehalten wurde, war ja die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge.

Nun zum Wahlergebnis: Überraschend war für mich vor allem das Abschneiden des BZÖ, dass ich eher in Richtung 4%-Marke geschätzt hätte, allerdings mit einer FPÖ die über 20 bis zu 25 % erhält. Das eigentlich bedenkliche an der Situation ist, dass es derart große Protestwahlparteien gibt.

Den Auftritt von Werner Faymann beurteile ich derzeit eigentlich überraschend gut, auch wenn ich es problematisch sehe, dass die SPÖ etwa bei der Ausländerproblematik derzeit meiner Meinung nach Realitätsverweigerung betreibt. Hier ist etwa in den Schulen mit hohem MigrantInnen-Anteil, aber auch in den Großstädten massiver Handlungsbedarf. Hier gibt es einfach keine wirklichen Konzepte, wie etwa ein verpflichtendes Vorschuljahr, um die Deutschkenntnisse, die eine Integration erleichtern würden, aufzubessern. Auch beim Wohnungsbau müssten endlich neue Konzepte her.

Andererseits halte ich aber auch die Ausgrenzungspolitik gegenüber der FPÖ und dem BZÖ für lächerlich. Denn wenn man die beiden Parteien in die Regierungsverantwortung nimmt, dann könnte man die beiden ohne weiteres entzaubern. Und das sage ich, ohne irgendwelche Sympathien für die beiden Vereine zu haben. Ich glaube ihre angebliche Arbeitnehmer-freundliche Politik würde im Praxistest im Parlament sehr bald ein Ende haben. Prinzipiell glaube ich, dass eine Zusammenarbeit der SPÖ mit FPÖ oder BZÖ schwer möglich ist, weil da die Programme einfach zu unterschiedlich sind. Aber dieses Problem sehe ich auch bei der ÖVP massiv, auch wenn es derzeit so aussieht, als ob Schüssel, der im Hintergrund für die Blockadepolitik der letzten Jahre verantwortlich war, gehen müsste. Die ÖVP ist aber trotzdem eine klassische Unternehmerpartei, die vor allem Politik für die großen Konzerne macht. Denn selbst für die kleineren Betriebe und Gewerbetreibenden macht sie in Wirklichkeit nicht viel.

Auch die Grünen sind für mich nicht wirklich eine Alternative, weil sie einfach immer wieder in alte Reflexe hineinfallen, etwa wenn sie den Individualverkehr verteufeln. Man kann auf diesem Feld aber mit Verboten nichts erreichen. Die Menschen nutzen aus reinem Eigennutz das Auto und steigen nicht auf den öffentlichen Verkehr um, weil in diesem Bereich einfach in vielen Jahren lange Zeit nichts gemacht wurde. Daher nützt man in diesem Fall ganz einfach das schnellere Verkehrsmittel, dass in vielen Fällen das Auto ist.

Siehst du hier nicht vor allem auch ein generelles Problem, weil hier der Staat und damit auch der öffentliche Verkehr in den letzten Jahren und Jahrzehnten kaputt gespart wurde?

Natürlich ist es nicht verwunderlich, dass immer weniger Geld zur Verfügung steht, wenn die Großkonzerne immer weniger Steuern zahlen und teilweise mit Subventionen sogar positiv aussteigen. Die Steuerlast wurde in den letzten Jahren immer mehr auf die kleinen Leute abgewälzt. Das sieht man ja auch derzeit: Unsummen fließen in die Rettung von krisengeschüttelten Unternehmen. Aber ich höre den Aufschrei heute schon, wenn nur irgendjemand auf die Idee kommen würde, mit ähnlich hohen Summen etwa das Bildungs- oder Krankensystem zu fördern und aufzubauen! Um die Steuern in diesem Bereich zu erhöhen, müsste man den Kapitalmarkt einschränken, aber das geht nicht nur in Österreich, das müsste man EU-weit machen.

Derzeit herrscht ja zwischen den verschiedenen Ländern ein ruinöser Wettbewerb, wer die wenigsten Steuern verlangt. Die Politiker lassen sich vielfach von den Großkonzernen erpressen, anstatt sich EU-weit auf einheitliche Standards festzulegen.

Das liegt aber meiner Meinung nach auch daran, dass die EU nicht unbedingt, um es milde auszudrücken, arbeitnehmerInnenfreundliche Politik macht.

Natürlich ist die EU, um es auf gut deutsch auszudrücken, eine Interessenvereinigung der Großkonzerne. Aber gibt es eine Alternative dazu? Der EU-Austritt, wie von einigen Seiten propagiert ist es meiner Meinung nach nicht. Die EU-Politik muss in Richtung Sozialunion gedrängt werden. Da bin ich zwar skeptisch dass es funktioniert, aber man muss es zumindest versuchen, es bleibt nichts anderes übrig.

Da sehe ich übrigens auch den Vorstoß der SPÖ - wenn auch der Weg über den Brief in der Krone vielgescholten war - durchaus positiv. Es ist meiner Meinung nach durchaus eine Möglichkeit, die EU durch Volksabstimmungen unter Druck zu setzen, vielleicht kann man dadurch ja was bewegen. Wobei man da auch dazusagen muss, dass etwa die Volksabstimmung vor dem Beitritt zur EU eine einzige Verarsche war.

Um wieder auf die österreichische Politik zurückzukommen: Wie kann man deiner Meinung nach die SPÖ wieder für linke Politik gewinnen?

Das Problem ist, dass dafür wichtige Voraussetzungen fehlen: Im Parlament gibt es keine linke Mehrheit, das ist nicht nur seit den letzten Wahlen so, sondern dieses Problem besteht schon seit längerem. Daher ist eine Koalition mit SPÖ-Beteiligung nur mit den Rechten möglich, und das bedeutet automatisch auch Kompromisse. Insgesamt muss es geschafft werden, dass eine linke Mehrheit im Parlament zustande kommt. Das könnte etwa auch durch eine Partei, die links von der SPÖ steht gelöst werden.

Diese(s) linkssozialistische Partei/Projekt könnte dann nämlich auch Proteststimmen aufnehmen, die derzeit nur von der Rechten gesammelt werden. So gilt es immer nur eine noch rechtere Regierung, wie etwa Schwarz-Blau-Orange zu verhindern. Mit dieser Drohung muss die SPÖ derzeit immer leben und ist dadurch eher gezwungen eine GroKo einzugehen.

Aber war nicht vor allem das Schreckgespenst einer derartigen Regierung auch immer wieder eine Ausrede für die SP-Spitze, um in der Koalition mit der ÖVP zu viele Kompromisse einzugehen und selbst nach rechts zu gehen?

In der SPÖ ist ein großer Ruck zur Mitte bzw. sogar nach Rechts passiert. Aber wen wundert das bei Vorsitzenden wie etwa Vranitzky, der sich selber immer gern als Großbanker gesehen hat, oder auch Klima, der nachher nach Argentinien gegangen ist und dort VW geführt hat? Unter der Annahme, dass die SPÖ in die Regierung geht, ist es auf jeden Fall nicht möglich, dass sie andere Politik macht. Daher kann sie aber auch nicht Proteststimmen einsammeln, weil sich die naturgemäß immer gegen die Regierenden richten.

Aber glaubst du nicht, dass man auch in Opposition seine Politik verfolgen kann, bzw. Widerstand gegen die Maßnahmen einer konservativen Regierung setzen kann?

Da erinnere ich mich eigentlich zu sehr an die jämmerliche Rolle der SPÖ in Zeiten der ÖVP-FPÖ-Regierung. Wenn man über lange Jahr in der Regierung war, dann muss man Oppositionspolitik erst lernen. Aber auch die Grünen haben bisher eigentlich ja nichts bewirken können. In der Regierung und einer Koalition kann man eigentlich noch immer am meisten bewegen.

Aber man könnte doch etwa in Opposition durch Streiks, durchaus auch politische Streiks, Widerstand setzen, oder?

Ich glaube dafür geht es uns in Österreich noch immer zu gut. Wenn man zum Beispiel nach Frankreich schaut, dann streiken dort jene, denen es wirklich dreckig geht. Man darf ja nicht vergessen, dass jeder Streik eine wahre Machtprobe darstellt. Man kann damit auch alles verlieren. Daher muss der Gegner wirklich richtig Angst bekommen dabei. Wenn ich mir jetzt so das Angestelltenmilieu anschaue, dann ist radikales Auftreten hier wirklich schwer. Denn mit den paar Trillerpfeifen wird man da wenig erreichen können. Natürlich wäre es auch eine Möglichkeit, bei einem Streik zu versuchen die Infrastruktur lahmzulegen, aber man darf sich nicht darauf verlassen, dass dies auch wirklich klappt.

Ich würde hier nur den ÖBB-Streik 2003 einwerfen. Dieser wurde ja vom ÖGB abgedreht, als es wirklich ans Eingemachte ging und es der Wirtschaft wehzutun begann.

Also ich sehe da vor allem ein anderes Problem, denn die Gegenseite drohte zu einer Zeit, da der ÖGB gerade finanziell angeschlagen war (Stichwort: BAWAG), mit massiven Schadenersatzklagen an den ÖGB. Bei harten Auseinandersetzungen (Streiks) besteht immer die Gefahr, dass auch die Gegenseite Maßnahmen setzt und die Streikenden entlässt. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass man mit einem Streik in gewissen Situationen dem Unternehmer sogar einen Gefallen machen kann. Wenn sowieso gerade die Produktion heruntergefahren werden soll, dann haue ich die Streikenden raus - wofür es die rechtliche Deckung gibt - und spare mir Geld ein. In einigen Situationen muss man sich daher Alternativen überlegen. Etwa der Tankboykott-Aufruf bei Shell, der innerhalb kurzer Zeit das Unternehmen in die Knie zwang. Das war ein Paradebeispiel, was mit gezieltem Konsumentenverhalten erreicht werden kann.

Beim Streik sehe ich aber immer wieder das Problem, dass die Solidarität fehlt: Als vor vier Jahren etwa am Standort München Stellen abgebaut wurden, hätten wir Siemens-Mitarbeiter eigentlich international streiken müssen. Aber was haben wir gemacht? Natürlich haben wir eine Solidaritäts-Adresse nach Deutschland geschickt, aber das war es dann auch schon wieder. Viel schlimmer war, dass wir uns hinter dem Rücken sogar fast die Hände gerieben und geglaubt haben: wenn es die trifft, dann bleiben wir vielleicht verschont. Wir können uns nicht einmal Konzern-intern solidarisieren, da wollen wir etwa auf europäischen Rahmen Solidarität zeigen?

Allerdings muss ich auch noch ein positives Beispiel sagen. Bei Generali hat es, soweit ich weiß, einen europaweiten Streik gegeben, der auch dementsprechende Resultate geliefert hat.

Um jetzt auf die österreichischen Gewerkschaften zu kommen: Wie beurteilst du derzeit die Situation des ÖGB?

Also da fällt mir als Erstes ein, dass ich von der groß angekündigten Reform bisher wenig gesehen habe. Auf der ganz untersten Ebene hat sich zwar einiges positiv verändert, etwa bei der Betriebsbetreuung durch die Gewerkschaftsfunktionäre aber oben sitzen genau dieselben Leute wie vorher. Das Problem ist ganz einfach, dass es nach wie vor in der Gewerkschaft an Demokratie mangelt.

Wo siehst du da konkret die Probleme?

Also ich vergleiche das immer mit einem x-beliebigen Kegelverein. Dort kann ich die Linie, in die sich der Verein entwickeln soll, mitbestimmen. Bei der Gewerkschaft geht das bis heute nicht. Es gibt im ÖGB noch immer keine demokratischen Wahlen, bzw. werden die Wahlen intern vorfraktioniert. Meiner Meinung nach müsste das basisdemokratischer ablaufen, so dass zum Beispiel von jedem Betrieb (oder jeder Fraktion) in einem Gremium zumindest ein Mann oder eine Frau drinnen sitzen. Derzeit sind die Gremien aber noch immer extrem verfilzt. Meist kann einem ja nicht einmal wer sagen, wie man dort reinkommt und wer einen dafür wählt. Also zusammenfassend kann man anmerken, dass sich nur auf der unteren Ebene etwas positiv entwickelt hat.

Zum Abschluss noch eine konkrete Frage zur Gewerkschaftspolitik: Was erwartest du dir von der diesjährigen Herbstlohnrunde?

Auf jeden Fall sehr schwierige Verhandlungen! Naja, eigentlich sollte der Abschluss über 5% liegen, wenn man sich die Teuerungen und Belastungen anschaut. Auch wenn die Wirtschaft derzeit nicht rosig ausschaut und sogar eine Rezession droht, muss man ganz einfach sehen, dass mit vernünftigen Abschlüssen ja auch der Inlandskonsum angehoben wird. Wenn die Abschlüsse ständig unter der Inflation sind, kann die Wirtschaft ja auch unmöglich anspringen.

Aber zu einem "vernünftigen" Ergebnis mangelt es der Unternehmerseite leider an gesamtwirtschaftlichem Verständnis, denn bei den meisten AGs zählt ja mittlerweile nur mehr das Quartalsergebnis. Mittlerweile warnen ja selbst Experten, dass Westeuropa die neue dritte Welt werden könnte in einigen Jahrzehnten. Derzeit läuft es darauf hinaus, dass nicht die neuen EU-Länder auf Westniveau bei den Löhnen gehoben werden, sondern im Gegenteil die westlichen Staaten auf Ostniveau hinuntergedrückt werden. Und da hilft uns dann auch die vielgepriesene gute Ausbildung nichts mehr. Wenn ich mir etwa anschaue mit welcher Pension ein Akademiker leben wird müssen, der erst in den 30er-Jahren seines Lebens ins Berufsleben einsteigt und dann höchstens 35 Pensionsbeitragsjahre zustande bringt, und auch nur dann wenn er schon früh fest angestellt wird.

Ein Problem bei den Lohnverhandlungen sehe ich aber auch bei den Gewerkschaften selbst: Wir haben unseren Verhandlern schon mehrfach angeboten, dass wir sie unterstützen und uns vor das Verhandlungsgebäude stellen, um Druck auszuüben. So könnten sie auch während der Verhandlung mit Fragen zu uns kommen, oder wir könnten an Ort und Stelle konkrete Lohnvorschläge diskutieren. Aber dieser Vorschlag ist immer wieder verworfen worden, man will da keine Unterstützung. Außerdem ist es manchmal auch innerhalb der Verhandler schwierig eine geschlossnen Linie zu fahren. Wenn Betriebe von Verlagerungen und Abbaumaßnahmen bedroht sind, ist es schwierig hohe Abschlüsse und Protestmaßnahmen durchzusetzen.

Danke für das Interview!

Das Interview führte ein Mitarbeiter der Redaktion von "Wir sind ÖGB"
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