Verstaatlichungswelle in Venezuela
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- Erstellt am Mittwoch, 03. Oktober 2007 14:47
- von Emanuel Tomaselli, Hände weg von Venezuela
Die Verstaatlichungswelle rollt weiter zügig durch die venezolanische Ökonomie. Nachdem im vergangenen Jahr ehemals privatisierte Betriebe der Daseinsvorsorge - Telekom und Stromerzeuger - und die Erdölvorkommen reverstaatlicht wurden, ist nun die Grundstoffi ndustrie an der Reihe.
Begonnen wurde diese Offensive gegen das Privatkapital mit der Verstaatlichung der Erdölproduktion am Orinoco. Hier werden die größten Erdöl- und Erdgasreserven der Welt vermutet. Weiter ging es mit der Verstaatlichung des größten lateinamerikanischen Stahlwerks Sidor, das im Jahr 1998 privatisiert worden war. Die Zementindustrie, die völlig in der Hand multinationaler Konzerne war, folgte auf den Fuß. Im Sommer wurde die Enteignung der spanischen Bank Santander, die mehrheitliche Verstaatlichung des bisher von Texaco und BP kontrollierten Tankstellennetzes sowie des Gasvertriebes in Angriff genommen. Daneben sind mittlerweile Dutzende so genannte "sozialistische Betriebe", die zu 100 Prozent im Eigentum der Bolivarischen Republik stehen, neu eröffnet worden - insbesondere im Nahrungsmittelsektor.
Diese Politik ist eine Reaktion auf das Verhalten der Privatindustrie, welche die Preise künstlich nach oben treibt und so das Land destabilisieren will.
Nun wird daran gegangen, die verstaatlichten Betriebe miteinader zu integrieren. Damit soll erreicht werden, woran die Sozialpolitik bisher wegen des kapitalistischen Marktes gescheitert ist: die Bedürfnisse der Menschen sollen in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns gestellt werden.
Die Sidor und die vereinigte öffentliche Zementindustrie entwerfen derzeit gemeinsam einen Plan, wie der soziale Wohnbau nun endlich aus den Startlöchern kommen kann. Der Abriss der Elendssiedlungen in Venezuela und der Bau neuer, lebenswerter Siedlungen rücken damit erstmals in den Bereich des Möglichen.
Die ArbeiterInnenklasse war nur in einem der genannten Fälle Motor der Enteignung - und zwar beim Stahlwerk Sidor. Dies rückt die Frage der Kontrolle über die Betriebe in den Mittelpunkt des Interesses - dass nämlich auch öffentliche Betriebe nach kapitalistischen Kriterien von einer staatlichen Bürokratie geführt werden können, hat die österreichische ArbeiterInnenbewegung spätestens in der "Stahlkrise" schmerzhaft erfahren müssen.
Vorbild Inveval
Als Vorbild für die Verstaatliche Industrie Venezuelas kann und soll hier das Beispiel des 2005 (halb-)verstaatlichten Betriebes Inveval gelten. Wie regelmäßige Funke-LeserInnen wissen, ist dieser Sieg gegen die Werksschließung unter kräftiger Mithilfe der marxistischen Strömung (CMR) gelungen.
Heute gilt Inveval in Venezuela und darüber hinaus als Musterbeispiel eines "sozialistischen" Betriebes. Die unternehmerischen Entscheidungen werden vom ArbeiterInnenrat getroffen, es herrscht jederzeitige Wählund Abwählbarkeit der Werksleitung, das Prinzip der absoluten Lohngleichheit, eine ArbeiterInnenmiliz sowie gewerkschaftliche und politische Organisationen wurden im Betrieb gegründet (u.a. mehrere Betriebszellen der CMR).
Den GenossInnen von Inveval ist es nun gelungen, gegen den Widerstand der staatlichen Bürokratie einige für sie zentrale Forderungen durchzusetzen. Die Kooperative, die die Belegschaft Invevals zum Miteigentümer machte, wird aufgelöst, und der Betrieb wird nun endlich zu 100 Prozent verstaatlicht, jedoch mit der etablierten, von den ArbeiterInnen selbst geschaffenen Organisationsform des Betriebes. Weiters wird der private Zulieferer Acerven, der Handelsbeziehungen mit einer von der Belegschaft kontrollierten Inveval verweigerte, ebenfalls unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht. Weitere Betriebe, die in der FRETECO (der Einheitsfront der besetzten Betriebe Venezuelas) organisiert sind, haben nun neue Hoffnung geschöpft, dass auch ihre Betriebe verstaatlicht werden.
Außerdem wurden die GenossInnen auf direktes Geheiß von Präsident Chavez hin beauftragt, einen Gesetzesentwurf für die Verwaltung der verstaatlichten Betriebe vorzulegen. Die GenossInnen nahmen diese Aufgabe gerne an. Papier ist jedoch geduldig, die Bürokratie weiter ein riesiges Hemmnis für die Revolution. Den präsidialen Vorschlag, dass die Inveval-ArbeiterInnen andere staatliche Unternehmen besuchen und dort ihr Produktions- und Organisationsmodell eines "sozialistischen" Betriebs vorstellen, ist für sie dabei von größerer Bedeutung als die Möglichkeit eine Gesetzesinitiative zu verfassen. Sozialistische Produktionsverhältnisse können nicht von oben per Dekret erlassen, sondern nur von unten durch eigenes Engagement geschaffen werden.
Die bisherigen Erfolge bei Inveval waren nur möglich, weil diese Belegschaft eine klare marxistische Perspektive verfolgte. Die GenossInnen von Inveval wollen die anstehenden Betriebsbesuche daher vor allem auch nützen, um die kämpferischsten Teile der ArbeiterInnenbewegung in der marxistischen Strömung zu organisieren.