Heißer Herbst 1969 - "Wir wollen alles"

Italien erlebte in der Nachkriegszeit ein echtes Wirtschaftswunder. Eine politische Vorbedingung dafür war die Schwäche der ArbeiterInnenbewegung, die in den 1950er Jahren dem repressiven Fabriksregime nichts entgegenzusetzen wusste. Beispielgebend war dabei die Situation beim Autokonzern FIAT: Die Gewerkschaftsbewegung musste die Entlassung von 3.000 ArbeiterInnen – 2.000 davon Mitglieder der Metallgewerkschaft innerhalb der kommunistisch orientierten CGIL, des größten der drei Gewerkschaftsverbände – ohne großen Widerstand hinnehmen. Dies ist nur ein Beispiel für die Isolation, Schwäche und Illegalität, in welche die GewerkschaftsaktivistInnen damals gezwungen waren.

Erst zu Beginn der 1960er Jahre begann die ArbeiterInnenklasse sich wieder zu bewegen, um angesichts der gestiegenen Profite Lohnerhöhungen zu erkämpfen. Die Streiks von 1962 zwangen die herrschende Klasse, eine Mitte-Links Regierung zwischen den ChristdemokratInnen und der Sozialistischen Partei zu bilden. Nur so glaubte sie Einfluss auf die Massen ausüben und weitere soziale Unruhen verhindern zu können.

1968

Im Herbst 1967 begannen dann die StudentInnenkämpfe gegen eine Bildungsreform, welche die soziale Selektion an den Universitäten verstärken sollte. Das war der Anfang des italienischen 1968. Es wurde eine Massenbewegung der StudentInnen, die von den Besetzungen einer Vielzahl von Universitäten in ganz Italien gekennzeichnet war und die Politisierung einer neuen Generation von politischen AktivistInnen sah.

In ihrer Suche nach politischen Alternativen sowohl zum Reformismus als auch zum Stalinismus, und mangels einer genuinen marxistischen Organisation, endete die StudentInnenbewegung bald in einer Krise. Nur ein Faktor konnte sie aus dem Sumpf ziehen und ihr eine politische Perspektive bieten: Die ArbeiterInnenbewegung und die Kämpfe, die im Frühling 1968 in einigen Fabriken ausbrachen und Vorboten der Massenproteste von 1969 waren.

Die ersten Schichten der ArbeiterInnenklasse, die in diese Kämpfe eintraten, waren diejenigen, die keine Kampftraditionen hatten: einerseits die technischen Angestellten, die zuvor als "ArbeiterInnenaristokratie" betrachtet wurden und nun von einem Prozess der Proletarisierung und dem Verlust ihrer privilegierten Stellung bedroht wurden; sowie weiters Frauen, wie die WeberInnen der Textilfabrik Marzotto Valdagno, die plötzlich begannen die zutiefst patriarchalisch geprägten Verhältnisse, unter denen sie leben und arbeiten mussten, in Frage zu stellen und hartnäckig gegen ihren Boss kämpften.

Auch in den großen Fabriken fingen neue Schichten an, sich zu wehren. Es waren vor allem junge ArbeiterInnen, die aus Süditalien in die Industriestädte des Nordens ausgewandert waren. Die Fließbandarbeit erlebten sie als Joch, die Löhne waren viel zu niedrig, um sich in der neuen Heimat eine Existenz aufzubauen. Sie waren gewerkschaftlich nicht organisiert und konnten im gemäßigten und kompromisssuchenden Verhalten der Gewerkschaftsbürokratie auch keinen Ausweg aus der Sackgasse erkennen. Deshalb nahmen sie die Sache selbst in die Hand. Durch ihre Spontaneität und Radikalität schafften sie es oft gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie, in den Kämpfen den Ton anzugeben. Sie entwickelten dabei auch neue radikale Kampf- und Streikformen, mit denen sie die Macht des Kapitals schwer erschütterten.

Diese Arbeitskämpfe wurden für die kämpfenden StudentInnen und die politischen AktivistInnen ein wichtiger Referenzpunkt. Jeden Tag versammelten sich Dutzende von ihnen zusammen mit den ArbeiterInnen vor den Fabriken. Das trug dazu bei, die Kämpfe zu politisieren und förderte die Bildung von neuen Kampfstrukturen – die sog. StudentInnen-und-ArbeiterInnen-Versammlungen oder Basis-Einheits-Komitees. Diese Gruppen suchten nach einer Alternative zu der stalinistischen Bürokratie der Kommunistischen Partei, aber mangels einer marxistischen Analyse fanden sie nur den Guerillarismus als Vorbild im Kampf für den Sozialismus und entwickelten eine spontaneistische Konzeption der politischen Organisation. Die bekanntesten unter ihnen waren Potere Operaio (ArbeiterInnenmacht), Avanguardia Operaria (ArbeiterInnenavantgarde) und Lotta Continua (Der Kampf geht weiter).

Die Wende bei FIAT

Bei FIAT wurde nach langen Jahren von Repression und Niederlagen das Eis gebrochen als im Frühling 1969 in einigen Werkstätten in Turin ein spontaner Kampf ausbrach. Anlass war die Forderung nach demokratischen Betriebsratswahlen. Die Gewerkschaftsbürokratie hatte keine Kontrolle mehr über die Situation in der Fabrik. An der Spitze des Kampfes stand eine StudentInnen-und-ArbeiterInnen-Versammlung, aus der sich die Organisation Lotta Continua (LC) bildete. Während des Frühlings 1969 sammelten sich unter der Führung von LC hunderte von ArbeiterInnen und StudentInnen, die über die Fortsetzung des Kampfes diskutierten. Mitte Juni gab die Unternehmensführung nach, indem sie die Rolle der demokratisch gewählten FabriksrätInnen, wenn auch nur teilweise, anerkannten. In Juli rief die StudentInnen-und-ArbeiterInnen-Versammlung anlässlich des von den offiziellen Gewerkschaften ausgerufenen Streiks für niedrigere Mieten zu einem spontanen Protestzug außerhalb der Fabrik auf, der zu einer Massendemonstration wurde, an der sich die BewohnerInnen des Stadtviertels spontan beteiligten, die aber heftig von der Polizei attackiert wurden.

Im Herbst 1969 standen dann Kollektivvertragsverhandlungen in 50 Branchen an. Davon betroffen waren 5 Millionen ArbeiterInnen, unter anderem die MetallarbeiterInnen. Die Gewerkschaft verstand, dass es nötig war, auf einige Forderungen der ArbeiterInnen einzugehen, um die Kontrolle in den Betrieben nicht völlig zu verlieren. Am 13. September wurde eine Generalversammlung der ArbeiterInnenräte der Metallgewerkschaften einberufen, in der die Bürokratie von den ArbeiterInnen gezwungen wurde, die Autorität der demokratisch gewählten und jederzeit abwählbaren Fabriksräte anzuerkennen. Das war für die Bürokratie das einzige Mittel, um das Vertrauen der ArbeiterInnen zurückzugewinnen. Die GenossInnen von LC machten den großen Fehler, den Delegiertenrat nicht anzuerkennen und ihn als einen Betrug der Bürokratie zu betrachten. "Wir sind Alle Delegierte" war ihre Losung. Diese Losung war für die Mehrheit der ArbeiterInnen aber nicht nachvollziehbar. Die meisten ArbeiterInnen sahen in dieser Entwicklung einen Schritt vorwärts, hatten sie doch der Gewerkschaft ihren Willen aufgezwungen. In der Folge schlitterte die StudentInnen-und-ArbeiterInnen-Versammlung in eine schwere Krise, was der Gewerkschaftsbürokratie die Gelegenheit gab, Einfluss innerhalb der Räte zu gewinnen.

Heißer Herbst

Schon im Sommer 1969 hatte die Gewerkschaftsbürokratie der FIOM die MetallarbeiterInnen in die Verhandlungen für den neuen KV eingebunden: 300.000 ArbeiterInnen nahmen an der Urabstimmung teil und die Bürokratie wurde gezwungen, wichtige von der Basis aufgestellte Forderungen aufzunehmen, unter anderem bedeutende Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung.

Angesichts solcher Forderungen brach der UnternehmerInnenverband die Verhandlungen ab. Am 10. September fand der erste Generalstreik des heißen Herbstes statt – anfangs in der Industrie. Aber innerhalb weniger Wochen breitete sich der Kampf auf alle anderen Branchen aus, deren Kollektivverträge fällig wurden: im Baugewerbe, der chemische Industrie, in Krankenhäusern, im öffentlichen Verkehr und bei der Post, im öffentlichen Dienst und bei den landwirtschaftlichen HilfsarbeiterInnen. Außerdem fanden Generalstreiks und Demonstrationen gegen die Teuerung und die hohen Mieten statt. Gleichzeitig verbreitete sich die Tradition der demokratischen Betriebsratswahlen und in den Fabriken stellten die ArbeiterInnen in Diskussionen das kapitalistische System selbst in Frage.

In November erreichte der Kampf seinen Höhepunkt: Viele Betriebe streikten spontan und am 28. November fand in Rom eine Massendemonstration von 100.000 MetallarbeiterInnen statt. 5 Millionen ArbeiterInnen waren Anfang Dezember im Kampf. Um diesen revolutionären Flächenbrand zu löschen, mussten die Bürgerlichen auf die Forderungen der Bewegung eingehen: Im Dezember wurden viele Kollektivverträge mit wichtigen Zugeständnissen abgeschlossen. Die erzielten Errungenschaften, wie Lohnerhöhungen, die Anerkennung der Fabriksräte und die 40-Stunden-Woche wurden 1970 auch im Arbeitsverfassungsgesetz festgeschrieben.

Welche Lehren?

Der heiße Herbst ist eines der lehrreichsten Kapitel in der Geschichte der italienischen ArbeiterInnenbewegung. Erstens hat dieser gezeigt, dass der Klassenkampf sich nicht immer geradlinig entwickelt, sondern dialektisch, indem auf lange Perioden von sozialem Frieden und Ruhe plötzlich explosionsartige Entwicklungen folgen können. Nach Jahren der Unterdrückung und der Niederlagen zogen die italienischen ArbeiterInnen sehr schnell revolutionäre Schlussfolgerungen, welche die einzige Antwort auf ihre lange angehäufte Wut sein konnten.

In solchen Momenten spielen neue Schichten von jungen ArbeiterInnen, die die Niederlagen der Vergangenheit nicht erlebt haben, eine Hauptrolle im Neuerwachen des Klassenbewusstseins. Ohne Gewerkschaftstraditionen suchten sie 1969 nach neuen Organisationsstrukturen, auch weil die Gewerkschaften in den 1950er und 1960er Jahren sehr schwach geworden waren. Das heißt aber nicht, dass die Bewegung die alten traditionellen Klassenorganisationen einfach Links liegen lassen konnte. Die Bürokratie kann sich sehr schnell nach Links bewegen und das Vertrauen der arbeitenden Massen wiedergewinnen. In "Linksradikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" hat Lenin deswegen die Notwendigkeit für MarxistInnen dargelegt, auch in reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten. Das wurde von Gruppen wie Lotta Continua nicht verstanden, was die Basis für die Krise der StudentInnen-und-ArbeiterInnen-Versammlungen legte.

In den entscheidenden Momenten des Klassenkampfes entwickelten sich zwar Strukturen von ArbeiterInnendemokratie – Betriebsräte oder Sowjets – die den Willen aller ArbeiterInnen am besten zum Ausdruck brachten und sich als effiziente Kampfinstrumente erwiesen. Mangels einer marxistischen Führung, die den ArbeiterInnen eine revolutionäre Perspektive geben hätte können, gelang es der Bürokratie aber, die Rätebewegung wieder unter Kontrolle zu bringen.

Etwas ähnliches geschah auch 1918 in Österreich, als sich während der revolutionären Streiks gegen den Krieg ArbeiterInnen- und Soldatenräte autonom von den traditionellen Organisationen entwickelten. Um die Kontrolle über die ArbeiterInnenklasse wiederzugewinnen musste die Sozialdemokratie erst diese neuen Strukturen unter ihren Einfluss bekommen, um sie dann in institutionalisierte Bahnen zu lenken. Deshalb ist es für revolutionäre AktivistInnen unerlässlich, eine Arbeit in den traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung zu entwickeln. Das nicht verstanden zu haben, war der große Fehler von Gruppen wie Lotta Continua; statt eine linke Strömung innerhalb der Fabriksräte und der Gewerkschaft zu organisieren und ihre landesweite Vernetzung zu fordern, betrachteten sie die Räte als einen bürokratischen Betrug an der Klasse und vergeigten auf diese Weise die Gelegenheit, größere Schichten von ArbeiterInnen für revolutionären Ideen zu gewinnen. Das gab der Gewerkschaftsbürokratie und der stalinistischen KPI-Führung die Möglichkeit, die politische Situation und die Welle von Kämpfen, die bis Mitte der 1970er Jahren andauern sollte, wieder in Bahnen zu lenken, die mit dem kapitalistischen System vereinbar waren.

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