Krise des öffentlichen Gesundheitswesens: Eine Krankenschwester legt Zeugnis ab

Dieser hier von uns erstmals auf Deutsch veröffentlichte Bericht einer Krankenpflegerin aus einem öffentlichen Krankenhaus stammt aus dem Juni 2008 und hat in Frankreich eine weite Verbreitung gefunden. Da es in Österreich vergleichbare Entwicklungen gibt, halten wir es für sinnvoll, diesen Erfahrungsbericht auch deutschsprachigen LeserInnen zur Verfügung zu stellen. Inzwischen hat der Gesetzesentwurf „Bachelot“ die Bedrohungen, die auf den öffentlichen Krankenhäusern und der Qualität ihrer Versorgung lasten, weiter verschlimmert.

Ich bin im Moment ziemlich niedergeschmettert, denn keine Zeitung, kein Sender, nicht einmal in den Reden unserer lieben PolitikerInnen spricht irgendjemand davon, was sich derzeit gerade in den öffentlichen Krankenhäusern abspielt … Und dabei kann ich ihnen/euch als Eine, die die Situation aus der Nähe kennt, versichern, dass es da so einiges gibt, das einen die Wände hochgehen lassen könnte. Der folgende Bericht mag vielleicht etwas kompliziert sein, ist aber notwendig um ihnen/euch verständlich zu machen, was sich momentan gerade vor Ort abspielt.

Ich bin Krankenschwester auf einer Erwachsenenstation für Innere Medizin (Pavillon 5, Spital Bellevue in St-Etienne), deren Kapazitäten für die Aufnahme von 21 Patienten – davon werden 95 % direkt aus der Notaufnahme überwiesen – reichen. Mit anderen Worten, die Mehrzahl der PatientInnen ist körperlich noch nicht sehr stabil und bedarf deshalb einer strengen und effizienten Überwachung durch die KrankenpflegerInnen und das Hilfspersonal. Auch den Reinigungskräften kommt eine wichtige Rolle zu, denn auf ihren Arbeitswegen durch die Gänge oder während der Reinigung eines Zimmers sind sie oft diejenigen, die einen Notfall als Erste bemerken und Alarm schlagen können. Ganz zu schweigen von ihrer eigentlichen Arbeit, die Hygiene der Stationen zu sichern, die eine grundlegende Rolle in der Bekämpfung krankenhausaufenthaltsbedingten Infektionen spielt.

Ich arbeite ausschließlich tagsüber, von morgens bis abends. Die Tages- und Nachtgruppen sind voneinander unabhängig. Unsere Gruppen setzen sich wie folgt zusammen: 2 Krankenpflegerinnen + 2 Hilfspflegerinnen + 1 Reinigungskraft morgens; 2 Krankenpflegerinnen, 2 Hilfspflegerinnen und 1 Reinigungskraft abends; und schließlich 1 Krankenpflegerin + 1 Hilfspflegerin nachts.

Das ist der vorschriftsmäßige Mindestdienst, um die Sicherheit der PatientInnen zu garantieren. Dazu muss noch gesagt werden, dass wir nie mehr Personal als vorgeschrieben zur Verfügung haben und dass die aktuelle Tendenz sogar dahingehend ist, dass die Abend- und Wochenenddienste fast schon systematisch unterbesetzt werden, d.h. mit nur einer Krankenpflegerin für 21 PatientInnen.

Vor zwei Monaten hat eine meiner Kolleginnen gekündigt, und ihre Stelle ist nicht nachbesetzt worden. Eine Weitere ist gerade beurlaubt; es besteht das Risiko, dass dieser Urlaub bis zum Sommer verlängert wird. Auch diese Kollegin wurde nicht ersetzt. Wir sind also nur noch 6 Krankenschwestern anstelle von 8 für ein Dienstrad von 4 Wochen, Wochentage, Wochenenden und Ferientage inklusive. Wir arbeiten also ein, dann zwei und schließlich drei Wochenenden zusätzlich (wir arbeiten schon normalerweise an zwei von vier Wochenenden) usw. bis sich der Dienstplan weiterdreht mit freien Tagen, die übersprungen werden und unablässigen Rhythmuswechseln. Auf diese Weise ist es unmöglich geworden, irgendetwas außerhalb des Krankenhauses zu planen ohne ständig Gefahr zu laufen, Termine aufgrund von Dienstplanänderungen im letzten Moment wieder absagen zu müssen!

Am 14. Juni 2008 hat noch eine Mitarbeiterin gekündigt. Ich war die einzige Schwester im Abenddienst und es war niemand da, um mich am Morgen danach abzulösen … Dann wurde ein Krankenpfleger aus der Notaufnahme auf unsere Station geschickt, obwohl er unsere PatientInnen überhaupt nicht kannte. Darüber hinaus sah er sich dann noch mit einem lebensbedrohlichen Notfall bei einem der Patienten konfrontiert …

Eine der Reinigungskräfte, die vor einem Jahr ihren Dienst auf unserer Station beendet hat, wird nur punktuell ersetzt. Das zwingt die anderen 3 Putzkräfte dazu, sich ein Dienstrad von 4 Wochen, das wiederum Wochentage, Wochenenden und Feiertage inkludiert, untereinander aufzuteilen. Ihre Aufgabe ist es, jeden Tag alles von oben bis unten zu putzen, ganze 16 Behandlungszimmer (Fenster, Mobiliar, Wände, WC), die ÄrztInnenzimmer, die PatientInnenzimmer und öffentlichen Bereiche (Büros, Dusche, WC, Gänge) usw.

Und dann sagen sie mir bitte wie man den Anforderungen gerecht werden soll, wenn das Personal ohnehin schon großteils unterbesetzt ist? Das Krankenhaus verweigert weitere Anstellungen aufgrund von budgetären Defiziten und zieht es stattdessen vor, Vertretungen kommen zu lassen, die mehr kosten als Angestellte mit Fixverträgen.

Gestern hatte ich eigentlich meinen freien Tag  aber einen Gutteil meiner Zeit habe ich bei der Arbeitsmedizin, den Gewerkschaften und bei Gesprächen mit unserem Stationschef verbracht, um zu versuchen, Möglichkeiten zu finden, damit unsere Geschäftsführung uns endlich zuhört.

Glücklicherweise werden wir von unserem Stationschef unterstützt, der den Wert unserer Arbeit kennt und weiß, dass wir nicht ohne Grund protestieren. Er kennt uns gut genug, um selbst Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit das Schicksal der PflegerInnen des Krankenhauses nicht weiter ignoriert wird. Er unterstützt uns, weil er selbst angesichts der aktuellen Situation sehr besorgt ist, und weil er sieht, dass unsere Regierung dabei ist, die öffentliche Gesundheitsversorgung auszuhungern. Er aber hat die Arbeit in diesem Sektor gewählt, weil er Vertrauen in das öffentliche Gesundheitswesen und Respekt vor dem hippokratischen Eid hat.

Ich schlafe sehr schlecht; und um ehrlich zu sein, denke ich unausgesetzt an die Arbeit. Ich habe Angst, dass der Stress dazu führen wird, dass ich eine Aufgabe vergesse, dass der Zeitdruck mich davon abhalten wird, mir für eineN deprimierteN PatientIn die nötige Zeit zu nehmen. Ich habe Angst, dass ich vor Müdigkeit eine falsche Dosierung vornehmen oder ein Medikament dem/r falschen PatientIn geben könnte … Ich habe Angst, dass mich dieser Beruf, den ich liebe, unabsichtlicherweise in eine Mörderin verwandelt, weil sie es zulassen, dass sich die Situation ständig verschlechtert. Denn wir sind alle verantwortlich: Ich bin die Krankenpflegerin von heute, aber wir sind alle die PatientInnen von morgen. SIE könnten am Ende meiner Nadel sein, oder Ihr Ehemann, Ihr Kind, Ihre Angehörigen.

Ich lebe die Unsicherheit in meinem Beruf, obwohl ich ihn doch eigentlich beherrsche. Aber vor allem anderen bin ich ein Mensch.

Sie werden diejenigen sein, die unter einem Notstand bei den PflegerInnen leiden werden:

Ich werde keine Zeit gehabt haben, ihnen die Neuigkeiten des/r PatientIn zu bringen, den Sie lieben, ich werde nicht zwei Notfälle gleichzeitig behandeln können … Müssen wir warten, bis es Tote gibt, um endlich zu reagieren und uns dessen, was in den Krankenhäusern passiert, bewusst zu werden?

Heute brauche ich Ihre Hilfe. Bitte verbreiten sie diesen Bericht so weit wie möglich, um so viele Menschen wie nur irgend möglich zu informieren. Wenn Sie Personen aus dem Gesundheitswesen kennen, JournalistInnen, PolitikerInnen oder andere, zögern Sie nicht, diese anzusprechen. Wir müssen uns möglichst breit mobilisieren um so erfolgreich wie möglich zu sein. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Übersetzung: Anna Götsch
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