Der Wert der Arbeit

Auch innerhalb der übergroßen Mehrheit der Gesellschaft, die nur von ihrer Arbeit leben kann, werden die Einkommen immer ungleicher. Im Zuge der wirtschaftlichen Krise wurde vermehrt über die Ungerechtigkeiten der Entlohnung verschiedener Gruppen von unselbstständig Beschäftigten diskutiert. Im besonderen Kreuzfeuer – bis hin zur Ergreifung legistischer Maßnahmen – standen die Boni für SpitzenmanagerInnen der Bankindustrie, die während des langjährigen Booms besonders viel Einkommen erzielt hatten. Regelmäßig sind in den Zeitungen nun Gehaltsvergleiche nach Branche, Position und Geschlecht zu lesen. Wir gehen der Frage nach: Wie bestimmt sich der Lohn und was ist ein "gerechter" Lohn?

Einleitend sei darauf verwiesen, dass Lohndifferentiale (also der Unterschied in der Bezahlung für verschiedene Tätigkeiten) für MarxistInnen nicht zu den Hauptwidersprüchen in der Gesellschaft zählen. Marxistische politische Ökonomie zielt vielmehr auf das relative Verhältnis von Lohn und Gewinn, also dem Einkommen der EigentümerInnen von Produktionsmitteln, ab. Am Beispiel der Entlohnung im Finanzsektor zeigt sich besonders deutlich: Während sich die halbe Welt zu Recht über die Gagen der SpitzenbankerInnen aufregt, scheinen die EigentümerInnen der Banken außerhalb jeder gesellschaftlichen Verpflichtung zu stehen.

Die Gewinne aus Aktienbesitz und Dividenden werden von niemandem diskutiert. Eigentlich unerklärlich, in der kapitalistischen Logik aber klar: Um die Einkommen aus Eigentum anzutasten, muss letztlich das Eigentum selbst angetastet werden. Um die Einkommen aus Arbeit zu schmälern, muss mit den BankerInnen nur das gemacht werden, was sie selbst seit Jahrzehnten bei Reinigungspersonal, StahlarbeiterInnen und BeamtInnen fordern.

Besitz & Arbeit

In sehr allgemeiner Form können wir die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts so erklären: Nach Abzug der Investitionskosten fällt ein Teil den ArbeiterInnen in Form von Lohn und Gehalt zu, der andere Teil den KapitalbesitzerInnen in Form von Gewinn. Die Entwicklung über die letzten Jahrzehnte ist dabei eindeutig: Die bereinigte Bruttolohnquote (d.h. unter Außerachtlassung von steuerlichen Effekten, die bekanntermaßen Arbeitseinkommen gegenüber Kapitaleinkommen noch weiter benachteiligen) fiel von 1982 bis 2000 um 8 Prozentpunkte und seither noch weiter. Dies sagt aber noch nichts über die Verteilung des gesellschaftlichen Lohnbestandteils auf die einzelnen Schichten von ArbeiterInnen, geschweige denn einzelne Menschen aus.

Um diese Differenzen zu erklären gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze: Die (neo-)klassische Theorie, die den Preis für Arbeit (den Lohn) aus den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage ableitet und die marxistische, von Ricardo inspirierte Theorie, die den Lohn aus den materiellen Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft erklärt.

In der ersten Theorie bilden sich die Marktpreise dort, wo sich Angebots- und Nachfragekurve treffen, d.h. bei jenem Lohn, für den gleich viele Menschen bereit sind zu arbeiten wie die Firmen ArbeiterInnen einzustellen bereit sind. Die Schwächen dieses Modells sind augenscheinlich: Weder ist den "MarktteilnehmerInnen" die Nachfragekurve bekannt (niemand weiß, wie viel Firmen bereit sind, für eine gewisse Arbeitsleistung zu bezahlen, da diese Zahlen nicht publiziert werden), noch ist die Form der Angebotskurve in irgendeiner Art und Weise bestimmbar, denn die meisten Menschen bieten ihre Arbeitskraft nicht "freiwillig zu einem bestimmten Preis" an, sondern um sich und ihre Familie zu ernähren. Drittens, und dies ist der wichtigste Punkt, ist der Markt nicht symmetrisch, sondern extrem "oligopolistisch": Einer unüberschaubaren Zahl (potentieller) ArbeiterInnen steht eine beschränkte Zahl (potentieller) KapitalistInnen gegenüber.

Die KapitalistInnen haben daher eine relativ große ökonomische Macht. Bildlich ausgedrückt in vielen Erzählungen vom Betriebsleiter zu einer Arbeiterin "Wenn Du nicht zu diesem Lohn arbeiten willst, ist das kein Problem. Draußen stehen zehn Leute, die das tun würden."

Die marxistische Theorie erklärt die Lohnhöhe so: Sie ist gerade jene Summe von Werten, die zur Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft nötig sind. Dazu zählen einmal jene Dinge, die zum Leben überhaupt notwendig sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Verkehr, Bildung jeweils für die ArbeiterInnen aber auch ihre Familie, weil sonst in Zukunft keine gebildeten ArbeiterInnen mehr zur Verfügung stehen würden. Dazu kommt eine Summe, die historisch variabel ist und das "kulturelle Niveau der ArbeiterInnenklasse" widerspiegelt. Diese ist immer abhängig vom Gleichgewicht der Kräfte in der Gesellschaft, also davon, wie viel sich die ArbeiterInnenklasse tatsächlich erkämpfen kann.

Gewisse Unterschiede in der Bezahlung können schon aus dieser grundlegenden, noch rein im ökonomischen Rahmen verbleibenden, Erklärung abgeleitet werden. So ist z.B. die Absolvierung eines Universitätsstudiums ein Kostenfaktor, der zur Produktion einer in bestimmter Art und Weise existenten Arbeitskraft beigetragen hat und somit die Lohnhöhe beeinflusst. Dabei ist allerdings Vorsicht geboten: Dieser "Zuschlag" wird nur dann bezahlt, wenn die auf diese Weise (Universität) "produzierte" Arbeitskraft auch für eine Arbeit eingesetzt wird, für die erstens diese Ausbildung notwendig ist und die zweitens dem Unternehmen Profite einbringt. Legionen von UniversitätsabgängerInnen, die entweder gar keine, eine unterbezahlte oder völlig ausbildungsfremde Arbeit ausüben, können davon ein Lied singen.

Ohne Zweifel sind die bisher vorgebrachten Mechanismen nicht ausreichend, um die tatsächlich in der Gesellschaft auftretenden Lohndifferentiale zu erklären. Hinzu kommen Effekte, die nicht direkt ökonomisch zu erklären sind, sondern die "legale Marktlogik" durchbrechen. Es ist z.B. nach den zahlreich bekannt gewordenen Fällen von kriminellen Machenschaften (Madoff, BayernLB, BAWAG, Hypo Alpe Adria etc.) nicht besonders wagemutig zu behaupten, dass fast jede größere private Finanzinstitution krumme Geschäfte betreibt, die nicht öffentlich bekannt werden sollen. (Ohne dass diese notwendigerweise kriminell sind. Auch ein gerüttelt Maß öffentlicher Empörung kann einem Unternehmen schon teuer zu stehen kommen).

Die Einkommen der SpitzenmanagerInnen sind in diesem Zusammenhang zu sehen: Sie werden möglicherweise auch dafür bezahlt, dass sie gewisse Dinge tun oder über ihnen bekannte Dinge nicht sprechen. Die Logik dabei ist klar und hat mit direkter Bestechung nichts zu tun: Wer dazugehören (und sein/ihr Salär behalten) will, schweigt und genießt.

Ungleichheit

Eine der bekanntesten "außerökonomischen" Differenzen der Entlohnung ist jene zwischen Mann und Frau. Erklärungsmuster dafür gibt es viele: Das häufigere Auftreten von Teilzeitarbeit unter Frauen, die höhere Wahrscheinlichkeit für Frauen, in niedrigbezahlten Branchen zu arbeiten etc. All diese Erklärungen gehen am Kern vorbei: Warum arbeiten Frauen Teilzeit? Warum arbeiten Frauen in Branchen mit tieferen Löhnen? Die Gründe hiefür sind vor allem in der dominanten Form des gesellschaftlichen Lebens, der bürgerlichen Kleinfamilie, und damit verbundenen Rollenbildern zu suchen.

Die gesellschaftlich vorgegebene Idee der Ehe und des "Versorgerprinzips" läuft darauf hinaus, dass in der Entlohnung der männlichen Arbeitskraft auch die Kosten der Reproduktion der weiblichen Partnerin enthalten sind, die in der kleinbürgerlichen Ideologie die Reproduktion der Arbeitskraft ihres Mannes durch ihren Einsatz in der Hausarbeit ermöglicht. Die Entlohnung der Frau ist somit nur als "Zubrot" zum Familieneinkommen gedacht. So sind es nicht die Frauen, die sich schlecht bezahlte Jobs suchen, sondern Jobs, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, werden schlecht bezahlt. Diese Logik ist nicht bloß jene der KapitalistInnen, sondern auch in vielen Fällen jene der ArbeiterInnen.

Die obigen Darstellungen der Mechanismen der Lohngestaltung ist nicht vollständig, haben aber einen gemeinsamen Kern: Die Prinzipien des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft bringen jene Entlohnungsstruktur hervor, der wir tagtäglich in unserer Gesellschaft begegnen. Der Kampf um die Aufhebung der Lohndifferentiale innerhalb des Kapitalismus ist deswegen ein Kampf gegen Windmühlen. Solange der Profit als wirkmächtiges Instrument wirtschaftlichen Handelns die oberste Priorität für sich beanspruchen kann, werden Löhne sich nicht entlang der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Nützlichkeit gestalten, sondern gemäß der Gewinnmaximierung.

Dass diese beiden Kategorien weit auseinanderfallen können, zeigt eine Studie der britischen "New Economics Foundation", die für verschiedene Berufsgruppen den "gesellschaftlichen Nutzen" eines britischen Pfunds an Gehalt berechnet hat. Die Studie kommt zum Ergebnis, dass z.B. einE BankerIn der City of London für jedes Pfund Gehalt durchschnittlich 7 £ gesellschaftlicher Werte vernichtet (einE SteuerberaterIn bringt es gar auf 47 £ Wertvernichtung), während einE KindergartenpädagogIn pro £ Gehalt 7,43 £ gesellschaftlicher Werte schafft (einE MüllfahrerIn produziert sogar 12 £).

Auch wenn die Methoden dieser Studie andernorts auf Kritik stoßen werden, liegt in ihnen doch ein wahrer Kern: Die Lohngestaltung in einem kapitalistischen Rahmen ist grundlegend unvernünftig. Sie ist aber nur deshalb unvernünftig, weil der Kapitalismus an und für sich und in jedem Segment gesellschaftlichen Lebens die falschen Anreize schafft. Der Kampf für gerechte Löhne ist deswegen der bedingungslose Kampf gegen das kapitalistische Lohnsystem selbst.

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