Das Minority Movement: Ein Lehrstück revolutionärer Gewerkschaftspolitik
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- Erstellt am Dienstag, 21. November 2006 11:01
- von Josef Falkinger, Kampagne "Wir sind ÖGB"
Anfang der 1920er Jahre wurde die britische Gewerkschaftsbewegung in ihren Grundfesten erschüttert. Die sozialen Reformen der Vergangenheit wurden mit einem Mal vom Kapital in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund schaffte es eine kleine Minderheit von MarxistInnen, hunderttausende ArbeiterInnen zum gewerkschaftlichen Widerstand zusammenzuschließen.
Nach dem Krieg
Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Großbritannien viel mit dem Österreich der 1960er und 1970er Jahre gemeinsam. Seine Stellung als internationale Wirtschaftsmacht erlaubte es, einen Teil der arbeitenden Menschen am Reichtum teilhaben zu lassen. Der Konservativismus der britischen GewerkschafterInnen war sprichwörtlich.
Nach dem Verlust der britischen Weltmachtstellung im Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation schlagartig. 1921 mussten sechs Millionen ArbeiterInnen einen Reallohnverlust von 8% hinnehmen – BergarbeiterInnen verloren 26%, StahlarbeiterInnen 20% und TextilarbeiterInnen 11%.
Für die Führung des TUC (britischer Gewerkschaftsdachverband) stellte sich die Alternative, entweder den Kahlschlag sozialpartnerschaftlich mitzutragen oder für die Beibehaltung des Lebensstandards kämpfen. Sie entschied sich für ersteres.
Zuerst war die organisierte ArbeiterInnenschaft vor Schreck starr, aber mit der Zeit begann sich in den Betrieben Widerstand zu formieren; die junge Kommunistische Partei Englands spielte dabei eine zentrale Rolle.
Rolle der Gewerkschaften im modernen Kapitalismus
In einer Zeit der kapitalistischen Krise können die Gewerkschaften auf sozialpartnerschaftlichem Weg keine sozialen Fortschritte mehr erringen. Klammert sich die Gewerkschaftsführung dennoch weiter an diese Partnerschaft mit dem Kapital, trägt sie Mitverantwortung am sozialen Rückschritt. Die arbeitenden Menschen können diesen Weg aber nicht einschlagen; sie müssen, um ihren Lebensstandard zu verteidigen, über kurz oder lang den Weg der Konfrontation wählen und dabei versuchen, ihre Gewerkschaften in Kampforganisationen zu verwandeln. Deshalb wird ab einem gewissen Zeitpunkt die gesamte Gewerkschaftsbewegung zu einem Hindernis für das Kapital und den Staat.
Rolle der Gewerkschaften im modernen Kapitalismus
In einer Zeit der kapitalistischen Krise können die Gewerkschaften auf sozialpartnerschaftlichem Weg keine sozialen Fortschritte mehr erringen. Klammert sich die Gewerkschaftsführung dennoch weiter an diese Partnerschaft mit dem Kapital, trägt sie Mitverantwortung am sozialen Rückschritt. Die arbeitenden Menschen können diesen Weg aber nicht einschlagen; sie müssen, um ihren Lebensstandard zu verteidigen, über kurz oder lang den Weg der Konfrontation wählen und dabei versuchen, ihre Gewerkschaften in Kampforganisationen zu verwandeln. Deshalb wird ab einem gewissen Zeitpunkt die gesamte Gewerkschaftsbewegung zu einem Hindernis für das Kapital und den Staat.
Auf diese Weise sind zwei Dinge unvermeidlich: Erstens muss es zu einer Polarisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, zweitens zu einer allgemeinen Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der gesamten Gewerkschaftsbewegung kommen. Genau das passierte in Britannien von 1921 bis 1926.
Die Spirale der Ereignisse gipfelte im Generalstreik von 1926, einem epischen Kampf, in dem die Gewerkschaftsbewegung Britanniens sämtlichen "Legionen der Hölle" (A.J. Cook, in den 20er Jahren Führer der Bergarbeitergewerkschaft) trotzte.
Das Minority Movement
Die britischen KommunistInnen drohten 1921 mit 14.000 Mitgliedern im mehrere Millionen starken TUC wie eine Fliege in der Milch unterzugehen. In Diskussionen mit Lenin und Trotzki schlugen sie 1923 eine neue Strategie ein: In den bestehenden Gewerkschaftsstrukturen sollten revolutionäre Minderheiten aufgebaut werden, die im Laufe der Ereignisse zu revolutionären Mehrheiten werden sollten. Es ging darum, in den Betrieben und Stadtteilen alle arbeitenden Menschen unabhängig von ihrer sonstigen politischen und weltanschaulichen Gesinnung im tagtäglichen Kampf gegen ihre AusbeuterInnen gewerkschaftlich zusammenzuschließen. Diese Tätigkeit verknüpften sie unter dem Slogan "Zurück in die Gewerkschaften!" mit einer Kampagne zur Mitgliederwerbung und zum Wiederaufbau lebendiger gewerkschaftlicher Basisstrukturen.
Bemerkenswert ist, dass das Minority Movement (übersetzt heißt das soviel wie "Bewegung der Minderheiten") sich in der ersten Phase darauf konzentrierte, kleine Kerne der bewusstesten GewerkschafterInnen zu organisieren. Erst im Fall eines betrieblichen Kampfes oder einer gewerkschaftlichen Massenbewegung würden sich um die gewerkschaftliche "Avantgarde" breitere Schichten sammeln.
1924 fand der erste Kongress der "Minderheiten" statt: 270 Delegierte vertraten 200.000 Lohnabhängige. Den Vorsitz übernahm der 68jährige Tom Mann, ein lebendes Fossil der britischen ArbeiterInnenbewegung. Mit der Bezeichnung "Minderheit" wollte man sich ganz bewusst von der Mehrheit abgrenzen - einer Mehrheit, die bereit war, jeden sozialen Kahlschlag hinzunehmen, um die Partnerschaft mit dem Kapital aufrecht zu erhalten. Die Minderheit proklamierte auch offen, dass eine allgemeine Konfrontation des TUC mit dem Kapital die Frage einer neuen gesellschaftlichen Ordnung auf die Tagesordnung setzen musste.
"Jeder Betrieb eine Festung des gewerkschaftlichen Kampfes!"
Von 1921 bis 1923 gab es nur verzweifelte Defensivkämpfe. Ab 1923 nahmen die Kämpfe auf Betriebsebene wieder zu. Um die Kampffähigkeit wieder zu erringen, trat das Minority Movement für eine Reorganisierung des TUC ein. In jedem Betrieb sollten die ArbeiterInnen in Fabrikskomitees organisiert werden. Diese sollten die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung in Fachgewerkschaften aufheben und den Mitgliedern die Möglichkeit zur Entscheidung über ihren Kampf garantieren. Zugleich kämpfte es für Zentralisierung und Demokratisierung des TUC. Die TUC-Führung, die in den 1920er Jahren nicht einmal die formale Macht hatte, einen Generalstreik auszurufen, sollte zum Generalstab der ArbeiterInnenbewegung werden und gleichzeitig in jährlichen TUC-Kongressen der demokratischen Kontrolle der Fabrikskomitees unterworfen werden.
Weil sich die "Minderheiten" in den täglichen Kämpfen bewährten, wuchs die Bewegung schnell an. Der wirkliche Test kam aber erst im Generalstreik von 1926.
Der Generalstreik
1925/26 forderten Kapital und Regierung die ArbeiterInnenbewegung frontal heraus, indem eine drastische Lohnkürzung im Bergbau gefordert wurde. Der bemerkenswert geschlossene Generalstreik als Antwort der organisierten ArbeiterInnen überraschte sowohl die Regierung als auch das Kapital. Die Trades Councils, regionale Komitees des TUC, die alle Fachgewerkschaften und die ArbeiterInnenparteien umfassten, waren HerrInnen der Lage, ohne deren Zustimmung sich kein Rädchen drehen ließ. Die Regierung schickte die Armee in die ArbeiterInnenviertel, konnte aber keine Einschüchterung bewirken. Wo die Polizei Zusammenstöße provozierte, bildeten sich spontan ArbeiterInnenselbstverteidigungskomitees.
Rolle der Gewerkschaften im modernen Kapitalismus
Ein Sieg der Bewegung hätte die Macht des Kapitals in den Grundfesten erschüttert. Die Führung des Gewerkschaftsbundes wollte dies um alles in der Welt verhindern. Am neunten Tag brach sie den Streik ab. Dabei hatte die Streikwelle den Höhepunkt noch nicht einmal erreicht. 24 Stunden danach streikten 100.000 Beschäftigte mehr. Jetzt kam die Stunde für das Minority Movement, das kurz vor dem Streik bei seinem Kongress 883 Delegierte versammeln konnte, die eine Million Gewerkschaftsmitglieder (ein Viertel des TUC!) repräsentierten. Während des Streiks konnte die gewerkschaftsübergreifende Perspektive des Minority Movement von Hunderttausenden in der Praxis erlebt werden; was vorher von der Mehrheit als utopisch angesehen wurde, war plötzlich die einzig realistische Strategie. Und genau hier versagte das Minority Movement. Weil Stalins UdSSR Handelsverträge mit England anstrebte, wurde die junge KP von England und damit auch das Minority Movement von Moskau aus in die Schranken gewiesen und zur kritiklosen Unterstützung der TUC-Führung gezwungen.
Lehren für heute
Wie damals bricht gerade heute in Österreich das Kapital mit der sozialpartnerschaftlichen Tradition und fordert mit atemberaubender Aggressivität einen konservativen ÖGB frontal heraus. Der Widerstand wird sich zuerst in bitteren Kämpfen auf Betriebsebene bilden. Schlussendlich, wenn auch langsamer als damals, wird es aber zu einer Herausforderung der gesamten Bewegung kommen, die einen allgemeinen Kampf provoziert.
Die Aufgabe der schwachen Kräfte des Marxismus heute ist es daher, zuerst kleine Gruppen von klassenbewussten ArbeiterInnen in den Betrieben zu organisieren und zu vernetzen. Erst im Zuge verallgemeinerter betrieblicher und gewerkschaftliche Kämpfe werden sich um diesen Kern breitere Schichten von Lohnabhängigen sammeln. In dieses Netzwerk gilt es unabhängig von der politischen Gesinnung all jene mit einzubeziehen, die für eine ernsthafte Verteidigung des Lebensstandards zu kämpfen bereit sind.