Krisentheorie: Gutes und böses Kapital?

Welchen Stellenwert hat der Finanzsektor in der Ökonomie und worin liegt die Ursache der Krise wirklich?

Der Mainstream-Ökonomie fällt angesichts der Krise nichts anderes ein, als der Schrei nach Haftungsübernahmen durch den Staat, verstärkter Aufsicht und ein Appell gegen die Gier. Wir nehmen das zum Anlass, uns den Zusammenhang zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft einmal näher anzusehen.

Die selben ÖkonomInnen, deren Sündenböcke jetzt gierige ManagerInnen und FinanzspekulatInnen sind, haben noch gestern jede Liberalisierung und Deregulierung glühend verteidigt. Schließlich wolle ja jeder reich werden und dies sei die Triebfeder des kapitalistischen Fortschritts. Um nicht bei den oberflächlichen Betrachtungen der bürgerlichen Ökonomie stehen zu bleiben, müssen wir zunächst einen Schritt zurück machen und die Rolle des Finanzsektors in der kapitalistischen Wirtschaft betrachten.

Woher kommt Profit?

Marx beschreibt im "Kapital" verallgemeinert zwei unterschiedliche Zirkulationsabläufe: In einer einfachen Warenwirtschaft muss man eine Ware verkaufen, um Geld zu bekommen und damit eine andere Ware kaufen zu können. Der Ablauf ist kurz: Ware-Geld-Ware, oder W-G-W. Im kapitalistischen System findet aber tagtäglich etwas anderes statt: EinE KapitalistIn will aus Geld mehr Geld machen. Marx kürzt das mit G-W-G’ ab, wobei G’ größer sein soll als G. Dieser scheinbare Zaubertrick gelingt nur, weil der/die KapitalistIn eine besondere Ware kauft, die die Eigenschaft hat, Wert zu erzeugen. Diese Ware ist die menschliche Arbeitskraft. Ihr Wert auf dem Arbeitsmarkt entspricht dem Lohn. Der Wert der Güter oder Dienstleistungen, die von einer Arbeitskraft produziert werden, ist aber höher als ihre Bezahlung. Den unbezahlten Rest nennt Marx Mehrwert und dieser bietet die Grundlage für den Profit des Kapitalisten oder der Kapitalistin.

Als Maß für die Rentabilität der Investition kann die Profitrate dienen. Diese ist das Verhältnis des Mehrwerts (m) zum gesamten eingesetzten Kapital, also allem, was für Löhne, Maschinen, Rohstoffe usw. ausgegeben wurde. Marx nennt den ersten Teil, die Ausgaben für Löhne und Gehälter, variables Kapital (v) und den Rest konstantes Kapital (c). Nun können wir die Profitrate (p) folgendermaßen abkürzen:p = m / (c + v).

Die Quelle des Profits ist der produzierte Mehrwert Das Kapital kann sich aus sich selbst heraus aber nicht vermehren und somit in der Produktion keine neuen Werte schaffen. Eine Maschine hat einen fixen Wert, den sie im Produktionsprozess an das Endprodukt weitergibt. Dieser Prozess wird in Abschreibungen sichtbar.

Die Profitrate tendiert dazu sich über die Branchen hinweg auszugleichen. Denn Kapital fließt immer in die Sektoren, wo die Profitrate hoch ist, solange, bis die erhöhte Kapitalkonzentration die Profitrate wieder senkt.

Und der Zins?

Das Bankkapital verhält sich analog zum industriellen Kapital. Banken wollen in erster Linie Profit erzielen. Der Großteil des gesellschaftlichen Mehrwerts wird aber in der Industrie geschaffen. Der Rest in kleineren produktiven Bereichen. Da aber jedeR UnternehmerIn für die Produktion teure Werke und Maschinen auf dem neuesten Stand der Technik unterhalten muss, ist jede Firma darauf angewiesen, einen Großteil des konstanten Kapitals über Fremdkapital vom Finanzmarkt zu beziehen. Banken stellen dieses Geld nicht freiwillig zur Verfügung, sondern versuchen, dieses zu ihrer eigenen Profitsteigerung einzusetzen. Sie ziehen über die Zinsen einen Teil der Profite aus dem industriellen Sektor ab, was Einfluss auf die Bildung der gesamtgesellschaftlichen Profitrate hat. Somit stammt der Gewinn von Banken vorwiegend aus Zinseinnahmen während in der Bank kein Mehrwert produziert wird.

Nun aber scheint es für die BesitzerInnen von Kapital so, als ob Kapital sich von selbst vermehren könnte. Für den oder die einzelneN KapitalistIn ist es nun auch in der Tat egal, ob er/sie Kapital in die Industrie, in eine Bank oder in eine Supermarktkette steckt. Die bürgerliche Ökonomie geht nicht weiter als bis zu diesem Punkt. Sie lässt sich vom Schein blenden und meint, dass die drei Produktionsfaktoren Land, Kapital und Arbeit durch Rente, Profit (beziehungsweise Zins) und Lohn bezahlt werden. Die Frage ist allerdings, woher diese kommen. Durch das bloße Verleihen von Geld kann kein Wert geschaffen werden – neuer Reichtum wird nur in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen geschaffen. Durch die Zinsen scheint es so, als ob Kapital die Fähigkeit hätte, sich selbst zu vermehren, als wäre der Urtraum jedeR KapitalistIn in Erfüllung gegangen, also ohne den "lästigen Umweg" der Produktion aus G sofort G’ zu machen. Marx schreibt dazu im 3. Band des "Kapitals", dass das Kapital "ohne Rücksicht auf die Bedingungen der Reproduktion und der Arbeit, als selbstständiger Automat betrachtet [wird], als eine bloße sich selbst vermehrende Zahl".

Vom Wechsel zu den Derivaten

In der aller vereinfachtesten Form konzentriert und verwaltet die Bank ganz unterschiedliche Kapitale mit verschiedenen Umlaufgeschwindigkeiten. Gibt einE GeldkapitalistIn Kredit, wird erwartet, dass dieses Kapital in der Produktion angelegt wird und er/sie erhebt mit den zu zahlenden Zinsen Anspruch af einen Teil des erwarteten Mehrwerts. Hier bleibt der Kapitalismus aber nicht stehen. Der nächste Schritt ist es, Kredite selbst zur handelbaren Ware zu machen. Die ursprünglichste Form davon - und zu Marx' Zeiten die dominante - war das Wechselgeschäft. Dabei wurde vereinbart, eine Ware erst zu einem späteren Zeitpunkt zu bezahlen. Dieses Zahlungsversprechen (der Wechsel) konnte verbrieft, zum Wertpapier gemacht und schließlich weiterverkauft werden. Wer eine Krise befürchtet, will seine Wechsel natürlich sofort - vor ihrem Verfallsdatum - in Geld zurückverwandeln.

Heute spielen Wechsel keine bedeutende Rolle mehr, dafür aber der Handel mit Aktien, Staatsschuld und Derivaten. Aktien sind Ansprüche auf einen Teil des im betreffenden Unternehmen produzierten Mehrwerts: "Die Aktien von Eisenbahn-, Bergwerks-, Schifffahrts- etc. Gesellschaften stellen wirkliches Kapital vor, nämlich das in diesen Unternehmen angelegte und fungierende Kapital und die Geldsumme, welche von den Teilhabern vorgeschossen ist, um als Kapital in solchen Unternehmungen verausgabt zu werden. […] Aber dieses Kapital existiert nicht doppelt, einmal als Kapitalwert der Eigentumstitel, der Aktien, und das andere Mal als das in jenen Unternehmungen wirklich auszulegende und anzulegende Kapital. Es existiert nur in jener letzteren Form, und die Aktie ist nichts als ein Eigentumstitel […] auf den durch jenes zu realisierenden Mehrwert"(MEW, Bd. 25, S. 484f). Im Großen und Ganzen stellen die Kursgewinne und -verluste im Wertpapierhandel ein Nullsummenspiel dar. Aber der Kapitalismus macht alles zur Ware: Der Wechsel des 19. Jahrhunderts ist nichts gegen die Derivate der heutigen Zeit, also die "Termingeschäfte" in Form von Futures und Optionen.

Rolle des Kredits

Der Kredit in all seinen Formen hat die Funktion, die Schranken der Kapitalakkumulation und -reproduktion enorm auszudehnen. So können zum Beispiel Waren verkauft werden, noch bevor sie produziert wurden. Ansprüche auf eine Zahlung in der Zukunft, die weiterverkauft werden, werden auch fiktives Kapital genannt. Ein Beispiel dafür sind die oben schon erwähnten Aktien. Sie ermöglichen es dem/r UnternehmerIn einen Teil des im Produktionsprozess veranlagten Kapitals schnell wieder hereinzubekommen. Denn die Aktie kann zirkulieren, das real (in Fabriken, Maschinen, Löhnen, usw.) investierte Kapital ist hingegen gebunden. Der Bereich der Zirkulationsgeschäfte, insbesondere des Banken- und Finanzwesens, spielt eine wesentliche Rolle im Kapitalismus und lässt sich nicht künstlich vom produktiven Kapital abtrennen. Diese Idee widerspricht auch ganz und gar der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts war bereits klar erkennbar, dass Bank-, Industrie- und Handelskapital immer stärker zum Finanzkapital verschmolzen. Mit einer verstärkten Monopolisierung und Zentralisierung des Kapitals wurde der Kapitalismus zum Imperialismus. Banken investieren in die Industrie und schicken ihre VertreterInnen in die Aufsichtsräte von Industrieunternehmungen. Umgekehrt sind oft Vertreter der "produktiven" Industrie in Entscheidungsgremien der Banken vertreten. Der Finanzbereich lässt sich nicht mehr vom Bereich der realen Produktion trennen. Beispiele dafür sind, dass Siemens schon öfters als Bank mit angeschlossener Elektroabteilung oder der Autokonzern Porsche als Hedgefonds bezeichnet wurden. Die Verschmelzung von Bank-, Industrie-, und Handelskapital zum Finanzkapital ist immer offensichtlicher geworden und bei allen Großkonzernen beobachtbar. Der US-Konzern General Electrics (GE) zum Beispiel befasst sich mit Technologie, Medien, Versicherungen, Finanzdienstleistungen, Finanzinvestitionen, Flugzeugmotoren, Stromerzeugung, Sicherheitstechnologie, Trinkwasseraufbereitung, medizinischen Geräten, Unternehmens- und KonsumentInnenfinanzierung, usw. - also so gut wie mit allem, und wahrscheinlich am wenigsten mit Elektrizität.

Reform oder Revolution?

Wir haben nun gesehen, dass es nicht möglich ist, einen "guten, produktiven" von einem "schlechten, unproduktiven" Wirtschaftssektor künstlich abzutrennen. Die rund um die Krise der 1970er Jahre deutlich gefallenen Profitraten führten zunächst zu einer beschleunigten Akkumulation, bei der die Profitrate zwar fiel, die Masse an Profiten aber bis zur aktuellen Krise noch wachsen konnte. Andererseits verursachten fallende Profitraten eine steigende Spekulation, da dort mit geringem Kapitalaufwand größere Gewinne als in der Industrie zu erwarten waren. So wurde die Deregulierung der Finanzmärkte nach der Krise von 1973/74 für das Kapital zur Notwendigkeit. Die veränderten Regelungen waren nur Ausdruck dessen, was die KapitalistInnen damals brauchten. Die betreffenden, von den FinanzministerInnen, NotenbankerInnen und Aufsichtsorganen der diversen Länder beschlossenen Richtlinien ermöglichten risikoreiche Spekulation, indem sie den verpflichtenden Eigenkapitaleinsatz verringerten. Die beteiligten Staaten agierten hier als Werkzeuge des Finanzkapitals - von Aufsicht nicht die geringste Spur. Das verwundert auch nicht, wenn mensch die Verknüpfungen zwischen Monopolkapital und Staat kennt. Im verzweifelten Versuch, die Profitraten zu sanieren, führten die Bürgerlichen im Sinne des "Neoliberalismus" enorme Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung, was die Kosten des variablen Kapitals senkt und die Profitraten auffettet. Trotzdem konnten sie ihre Profitrate nie mehr auf das Niveau des Nachkriegsbooms bringen. Zusätzlich wurde dadurch die Konsumnachfrage relativ zu den nun durch Kredit vergrößerten Kapazitäten eingeschränkt.

Das grundlegende Problem heute ist, dass ungeheure Kapitalmassen existieren, die nicht profitabel angelegt werden können, weil in der Produktion erzielte Profite aufgrund von zu geringer Nachfrage nicht realisiert werden könnten. Die Autoindustrie läuft derzeit weltweit nur auf ungefähr 30% ihrer Kapazitäten. In allen anderen wichtigen Industrien ergibt sich ein ähnliches Bild: Der Kapitalismus verschwendet Unmengen an Ressourcen, die im Dienste der Menschheit einsetzbar wären.

Gleichzeitig müssen wir uns aufgrund der gewaltigen Überkapazitäten auf eine tiefe und lange Krise einstellen, die durch Arbeitslosigkeit und Betriebsschließungen ein noch größeres produktives Potential einfach aus dem Grund brachliegen lässt, da seine Verwendung keinen Profit bringt. Angesichts dieser Situation kann nur der Schluss gezogen werden, dass sich der Kapitalismus überlebt hat. Alle, die einzig nach weniger Gier, mehr Aufsicht und dergleichen rufen, erweisen sich als peinliche VerteidigerInnen des Systems. In Lenins Worten rechtfertigen sie das System "indem sie die völlige Herrschaft des Imperialismus und seine Wurzeln vertuschen, dafür aber Einzelheiten und nebensächliche Details in den Vordergrund zu rücken versuchen, um durch ganz unernste 'Reform'projekte von der Art einer Polizeiaufsicht über die Trusts und Banken u.a. die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen abzulenken."

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